Auszug aus meinem Buch "Landschaften der Normalität - Behinderung jetzt":
Wenn Sie sich im letzten Kapitel gedacht haben: „So wie ich das kenne, werden Menschen mit Behinderung doch eher für ihre starke Lebenseinstellung bewundert, als dass sie diskriminiert werden“, dann heiße ich Sie hier herzlich willkommen. Es gibt nämlich auch noch die Kehrseite der Diskriminierung, den sogenannten Inspiration Porn. Um die Bedeutung dessen verstehen zu können, sollte zunächst erklärt werden, was Inspiration überhaupt ist. Die meisten von uns fühlen sich inspiriert, wenn sie etwas Unterwartetes oder Überraschendes sehen – oft etwas, das eine andere Person tut oder getan hat. Das kann etwas Künstlerisches sein, oder auch etwas sehr Anspruchsvolles. Die Person, die inspiriert wird, nimmt davon meistens etwas mit.
Bei Menschen mit Behinderung (vor allem bei Kindern) neigen viele Menschen allerdings dazu, einfach alles inspirierend zu finden – selbst ein Lächeln. Aber was ist daran schlecht? Nun, wenn normale Handlungen einer Person als etwas besonders Bewundernswertes dargestellt werden, impliziert das, dass dieser Mensch auf Grund seiner Behinderung doch eigentlich traurig, unmotiviert und unfähig ein müsste und man ihm diese Tätigkeit nicht zugetraut hätte. Doch - oh Wunder! Er hat es geschafft, sein schlimmes Schicksal zu bändigen und lässt sich nicht unterkriegen – ein:e wahre:r Held:in des Alltags. Nein! Diese Sicht der Dinge ist nicht nur oft inkorrekt, sondern auch herabwürdigend und reduzierend. Der Stereotyp des „leistungsschwachen Behinderten“ wird verstärkt und jegliche Handlungen und Entscheidungen der Person werden in Bezug zu ihrer Behinderung gesetzt. Eine weitere Seite dieser Darstellung sind Menschen mit Behinderung, die tatsächlich etwas Außergewöhnliches leisten und damit Nicht-Behinderte inspirieren - ganz im Sinne von: „Wenn das ein Mensch mit Behinderung schafft, dann schaffst du das auch!“ Nein! Sie können nicht alles schaffen, was ein Mensch mit Behinderung schafft, da dieser genauso seine individuellen Stärken und Talente hat, die andere Menschen evtl. nicht haben. Leider gibt es Betroffene, die diese Masche ausnutzen, um erfolgreich als Motivationsredner für Nicht-Behinderte zu arbeiten
Als Inspiration Porn werden dann beispielsweise Bilder, Videos oder Memes bezeichnet, die die genannten Aspekte verwenden, um z.B. auf Social Media besonders viele Likes oder Klicks zu bekommen. Ich bin mir sicher, dass fast jede:r von uns so etwas schon einmal gesehen hat. Meistens ist ein Kind im Rollstuhl oder mit Prothese zu sehen, das mit anderen, nicht-behinderten Kindern spielt, bastelt oder Sport macht. Darüber sieht man dann einen Schriftzug mit Botschaften wie: „Die einzige wirkliche Behinderung im Leben ist eine schlechte Einstellung“ oder „Deine Entschuldigung zählt nicht“. Hier werden Menschen mit Behinderung offensichtlich instrumentalisiert, um anderen Menschen ein gutes, herzerwärmendes Gefühl zu geben. Deswegen auch der Begriff des Pornos. Ob das Gezeigte für den Betroffenen eine tatsächliche Errungenschaft ist, bleibt unbekannt – der Betrachter sieht nur dieses eine Bild, ohne jeglichen Hintergrund zu kennen. Bei Sätzen wie „Die einzige wirkliche Behinderung im Leben ist eine schlechte Einstellung“ befinden wir uns eigentlich schon im Victim Blaming. Die Aussage, die hier getroffen wird, verlagert nämlich die Schuld für einen Misserfolg weg von den tatsächlichen Barrieren hin zu der Persönlichkeit des betroffenen Menschen. Fakt ist aber, dass eine Person im Rollstuhl auch mit einer grandiosen Einstellung eben keine Treppe hochfahren kann. Auch Bilder von Personen, die Menschen mit Behinderung helfen und dadurch zum Helden der Situation werden, sind ein beliebtes Motiv. Auch das verstärkt sämtliche Stereotypen und setzt beim Thema Paternalismus aus dem letzten Kapitel an.
Heißt das, man darf Menschen mit Behinderung jetzt gar nicht mehr inspirierend finden? Doch, natürlich schon. Allerdings vielleicht eher für Dinge, die eine tatsächliche Errungenschaft für die Betroffenen darstellen. Man kann sie zum Beispiel zurecht dafür bewundern, dass einige trotz erschwerten Bedingungen, Ausgrenzung und sogar Mobbing, sich nicht zurückgezogen haben, sondern dafür kämpfen, Teil der Gesellschaft zu sein. Übrigens ist es auch völlig ok, eine Person, die eine Behinderung hat, nicht zu mögen, sie unsympathisch zu finden oder gar zu kritisieren!
Ich sage das, weil einige anscheinend der Meinung sind, dass dies aufgrund der „eh schon belastenden Umstände der Person“ nicht mehr zumutbar wäre. Das kann natürlich teilweise so sein, aber nicht prinzipiell „nur“, weil die Person eine Behinderung hat. Wenn jemand einfach ein A****loch ist, hat das fast nie etwas mit seiner Behinderung zu tun.