Auszug aus meinem Buch "Landschaften der Normalität  -  Behinderung jetzt":
Sie haben jetzt einen intensiven Spaziergang mit vielen Eindrücken hinter sich. Sie wissen, was es bedeutet, eine Behinderung zu haben und wie es ist, behindert zu werden. Und nun? Das Wort Inklusion haben Sie sicher schon öfter gehört. Ob in Talk-Shows, im Freundeskreis oder in diesem Buch. Nach all dem, was Sie über den Missstand im gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung erfahren haben, haben Sie vielleicht den Impuls zu rufen: „Ja dann machen wir doch Inklusion! Worauf warten wir?!“ Ich gebe Ihnen Recht, das sollten wir. Aber wie? Beziehungsweise was? Wer genau hinschaut, wird nämlich bemerken, dass selbst die verantwortlichen Instanzen nicht genau wissen, was Inklusion sein soll. Es existiert eine Idee, aber keinerlei Kriterienkatalog, ab wann von einer inklusiven Gesellschaft die Rede sein könnte. Durch eine derartige Unwissenheitsbasis ist es auch nicht verwunderlich, dass das Thema in einen rechtlichen Irrgarten aus Bürokratie gejagt wurde.
Schließlich fällt bei all dem Hin und Her gar nicht mehr auf, dass bereits der Architekt des Labyrinths nicht wusste, wo das Ziel sein soll. Aber beginnen wir doch beim Wort „Inklusion“. Abstrahiert bedeutet Inklusion, dass etwas Außenstehendes in etwas Inneres aufgenommen wird und dadurch zu etwas Neuem wird. Das Innere ist dabei die Gesellschaft, das Außenstehende sind Menschen mit Behinderung. Hier beginnt bereits die Verwirrung: Wer kann sich anmaßen zu definieren, wer oder was „die Gesellschaft“ ist? Welche Eigenschaften werden „der Gesellschaft“ zugeschrieben? Freie Entfaltung, gesundheitliche Absicherung und Zugang zu Bildung und Arbeit? In der Inklusionsdebatte wird häufig so getan, als ob „die Gesellschaft“ eine gleichförmige Masse an Menschen wäre, der es gut geht und die keinerlei Probleme zu haben scheint. Ich denke wir sind uns einig, dass das nicht der Fall ist, schließlich wären sonst Menschen unterhalb der Armutsgrenze auch kein Teil unserer Gesellschaft. Diese besteht eigentlich aus vielen kleinen Untergruppen, die unterschiedliche Möglichkeiten und Grenzen haben. Die Probleme, die innerhalb und zwischen diesen Untergruppen bestehen, werden oft nicht gesehen. Teil dieser Gesellschaft zu sein bedeutet nämlich auch, Konkurrenzkampf und Leistungsdruck ausgesetzt zu sein, ausgeschlossen und sortiert zu werden. Uwe Beck formuliert in seinem Buch „die Inklusionslüge“ dazu sehr treffend:
„So bedeutet Inklusion beispielsweise im Regelschulsystem noch längst nicht, eine schulische Schlüsselqualifikation zu erlangen, die aber für die gesellschaftliche Teilhabe immer wieder als das zwingend zu passierende Eintrittstor beschrieben wird. Und die Teilnahme am Arbeitsmarkt führt noch längst nicht zu einem Leben jenseits von Armut oder Angewiesenheit auf Sozialleistungen und ist auch nicht stetig garantiert.“
Selbst wenn wir als Gesellschaft jegliche Institutionen für alle Menschen öffnen, garantieren diese also keines Wegs die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben. Ist es also überhaupt erstrebenswert, Teil dieser Gesellschaft zu sein? Und ist es nicht diskriminierend, den „Raum“ in dem Menschen mit Behinderung leben als weniger erstrebenswert darzustellen als die ach so tolle gesellschaftliche Mitte? Hinzu kommt, dass man keineswegs von einer Nichtteilhabe – einer Exklusion – von Menschen mit Behinderung sprechen kann. Schließlich steht fast ihr gesamter Alltag in direkter Beziehung zur restlichen Gesellschaft: durch unser Gesundheitssystem, durch gesetzliche Regelungen, durch jegliche Mittel, die im Kreislauf der Gesellschaft jede:n einzelne:n versorgen. Eine tatsächlich exkludierte Gruppe von Menschen müsste eine Art indigenes Volk sein, das an einem unbekannten, von uns nicht beeinflussten Ort lebt, von dem wir nichts wissen. Quasi ein gesellschaftlicher blinder Fleck. Denn jedes Zusammenspiel, jede Abhängigkeit, jede Interaktion macht eine Gruppe zwangsläufig zu einem Teil des Systems „Gesellschaft“. Zwar separiert und vielleicht eher randständig, aber dennoch ein Teil des großen Ganzen. Sie sehen: Es ist überhaupt nicht einfach zu definieren, wer wie wann in was leben müsste, um sich als „inkludierter Teil der Gesellschaft“ bezeichnen zu dürfen.
Aber was hat die Politik dann überhaupt vor? Das Ziel sollte sein, das jeder Mensch – egal ob mit oder ohne Behinderung – gleichermaßen die Möglichkeit auf Teilhabe an der Gesellschaft und auf Selbstständigkeit und Selbstbestimmung hat. (Dass das bei vielen Menschen ohne Behinderung bereits jetzt nicht funktioniert, wird hier zum Teil vergessen.) Damit dies erreicht wäre, müssten folgende Aspekte auf jeden Fall vorhanden sein: Eine grundsätzliche physische Barrierefreiheit. Alle Orte müssten für alle (z.B. auch Rollstuhlfahrer:innen und Blinde) erreichbar sein. Gebäude und freie Flächen müssten ebenerdig oder mit Rampen versehen sein bzw. einen Aufzug haben. Türen müssten grundsätzlich über eine selbstöffnende Option verfügen und breit genug für große Rollstühle sein. Behindertentoiletten müsste es in angemessener Zahl geben. Jegliche Orte müssten über Leitlinien und/oder hörbare Informationen verfügen, sodass auch Blinde sich selbstständig orientieren könnten. Hinzu käme eine inhaltliche Barrierefreiheit. Alle wichtigen Texte und Gespräche müssten sowohl in einfacher Sprache (für Menschen mit geistiger Behinderung), in Gebärdensprache (für Menschen mit Hörschwierigkeiten), als auch in Brailleschrift (für Blinde) und zum Anhören (für Analphabeten) zur Verfügung stehen.
Damit nicht genug, denn Regelungen in Systemen müssten so aufgeweicht werden, dass Menschen mit chronischen oder psychischen Krankheiten trotzdem an ihnen teilnehmen könnten. Beispielsweise von daheim aus oder durch zur Verfügungstellung von Ruheräumen. Viele öffentliche Räume, die zum täglichen Leben nötig sind, bräuchten reizarme Nebenräume oder Zeiten. Dieses Modell existiert bereits, beispielsweise bei Supermärkten, die eine Schweigestunde für Autisten haben, in der sich ruhig und reizarm einkaufen lässt (zum Beispiel bei der Kette „Spar“ in der Schweiz). Und nicht zuletzt: jegliches Wegfallen von zwischenmenschlicher Diskriminierung. Menschen mit Behinderung müssten als absolut normal und alltäglich wahrgenommen werden. Was hat die Politik also vor? In den konkreten Plänen liegt der Fokus klar auf inklusiver Bildung und Arbeit. Ganz nach dem Motto: Mit der richtigen Bildung und der richtigen Arbeit sind alle Wege zur Selbstverwirklichung geebnet. Ein wirklich inklusives Bildungs- und Arbeitssystem müsste aber so vielfältig und individuell sein, sodass JEDE:R mit dessen Bedürfnissen darin gesehen und demnach behandelt werden würde und keinerlei individuelle Nachteile bestünden. Sie ahnen es: Dieses System wäre von Grund auf anders. Gehen wir für einen Moment davon aus, dass eine Umsetzung dessen überhaupt geplant wäre. Wer soll das alles finanzieren? Und das mit angezogener Schuldenbremse? Aktuell werden die finanziellen Mittel für inklusive Projekte von genau denjenigen zur Verfügung gestellt, die bei diesen nicht mitmachen wollen. Der Geldtopf wird nämlich ausschließlich von Firmen gefüllt, die Ausgleichsabgaben für ihre nicht besetzten Stellen für Menschen mit Behinderung zahlen müssen. Das bedeutet: In dem Moment, in dem alle bei der angestrebten Inklusion mitmachen, gibt es niemanden mehr, der diese finanziert! Nur gut, dass die Verpflichtung zur Umsetzung von Inklusion von vornherein unter der Bedingung der Finanzierbarkeit stand… Auf einen großen Fortschritt durch die Verpflichtungen des Staates ist also eher weniger zu hoffen. Ein derartige Umstellung wäre allerdings sowieso nicht ausschließlich durch Regeln und Umgestaltung der Öffentlichkeit möglich. Ein Umdenken in den Köpfen aller wäre notwendig – spätestens um das Thema zu normalisieren und Vorurteile abzubauen. Wir müssen also alle Hand in Hand gehen, um das gemeinsame Ziel Inklusion zu erreichen. Nur was, wenn hierbei jemand nicht mitmachen will? Es gibt sowohl Menschen mit als auch ohne Behinderung, die überhaupt keine Lust dazu haben, ein Teil „der Gesellschaft“ zu werden. Die Zahl dieser Menschen steigt. Spätestens seitdem viele Institutionen versucht haben, ohne Plan wild darauf los zu inkludieren und dadurch großen Schaden angerichtet haben. Vor allem in Schulen führte dies zu überforderten Lehrer:innen, verärgerten Eltern und verwirrten Schüler:innen. Wem wird dann die Schuld in die Schuhe geschoben? Den viel zu anstrengenden Kindern mit Behinderung. Durch schlecht durchdachte Inklusionsversuche züchtet man geradezu eine neue Form der Behindertenfeindlichkeit.
Ist Inklusion also nur eine Wunschvorstellung? Eine nicht umsetzbare Utopie? Ja und nein. Ich bin mir inzwischen absolut sicher, dass wir es mit einer Utopie zu tun haben. Dies sollte aber keineswegs die Motivation schmälern daraufhin zu arbeiten. Zudem muss sie wahrscheinlich auch noch umformuliert und ausgeklügelt werden. Es sollte beispielsweise mehr darüber nachgedacht werden, was Inklusion nicht ist, beziehungsweise nicht sein darf: Nämlich der Versuch, alle Menschen gleich zu behandeln. Sie muss der Versuch sein, den Wert jedes Menschen unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit anzuerkennen und jedem einen Platz in der gesellschaftlichen Mitte anzubieten. Mit völliger Offenheit dafür, dass dieses Angebot auch abgelehnt wird. Denn vorzugeben wie ein erstrebenswertes Leben auszusehen hat und dadurch Rückzugsorte und Schonräume zu schließen, bedeutet gleichermaßen die Menschen, die diese brauchen, nicht ernst zu nehmen. Was Inklusion ebenfalls nicht bedeuten darf ist, die Gesellschaft auf Kosten der einen zu Gunsten der anderen zu verändern. Eine erfolgreiche Inklusion müsste für alle Beteiligten einen Benefit mit sich bringen, spätestens im Erlernen eines offenherzigen und gemeinschaftlichen Umgangs. In Beruf und Schule darf es nicht bedeuten, von allen dasselbe zu verlangen und zu erwarten. Es muss bedeuten, an den Stellen, an denen es für alle Sinn macht, gemeinsame Projekte umzusetzen und an den Stellen, an denen es keinen macht, nach Bedürfnissen aufzuteilen. Vor allem in der Schule geht es also nicht darum, alle Kinder in einen Raum zu sperren und zu verlangen, dass es funktioniert. Es bedeutet auch nicht, dass der Schwierigkeitsanspruch an einen Unterricht für alle reduziert werden muss. Es bedeutet, dass die Lehrer, die diesen leiten, so kompetent sein müssen, dass sie wissen, was der absolute Kern ihres Stoffs ist, sodass sie diese auch an weniger leistungsstarke Kinder vermitteln können. Die Pädagogin Prof. Dr. Jutta Schöler berichtet dazu sehr treffend:
„Ich habe in Bad Harzburg über Jahre ein sehr anspruchsvolles Gymnasium begleitet und beraten. Da gab es einen tollen Deutschlehrer, der die anspruchsvollsten Ganzschriften auch mit den Kindern gemeinsam unterrichtet hat, die als geistig behindert oder schwer mehrfachbehindert bezeichnet wurden. Das fing dann damit an, dass die Aufgabe für alle Schüler darin bestand, dass sie aus dem ganzen Text – Andorra zum Beispiel – das Kapitel auswählen sollten, wo sie der Meinung waren, dass die Schüler mit dem besonderen Förderbedarf dort in einem kleinen Sketch auch eine Rolle übernehmen könnten. Und dieser Lehrer hat mir gesagt: So aufmerksam hat er die anderen noch nie diesen Text lesen erlebt. Und dann haben diese Schüler die einzelnen miteinbezogen, um einen kleinen Sketch zu machen. Und dann gab es aber auch Phasen, wo vielleicht diese Schüler zusammen mit ihren Einzelfallhelfern die Kulissen dafür gemalt und gebaut haben. Aber es war auf diesen gemeinsamen Gegenstand bezogen.“
Im aktuellen Schulsystem haben Kinder oftmals bis zu 7 verschiedene Lehrkräfte an einem Tag. Diese wissen meist nicht, was die jeweils anderen treiben. Das ist für eine Klasse nicht besonders förderlich und macht es für die Lehrer unmöglich, sich komplexerer Situationen anzunehmen. Hat man ein verantwortliches Kompetenzteam, so würden alle Schüler in denselben Unterricht miteinbezogen, aber jedem ein abgestimmter Teil desselben angeboten werden können. Es muss also nicht der gesamte Unterricht für einzelne Schüler abgeändert werden, sondern nur erkannt werden, welcher Teil des Inhalts für wen umsetzbar ist (zieldifferentes Lernen). Tatsächlich ist die Umsetzung dessen sogar umso leichter, umso größer die Leistungsunterschiede sind, da die Kinder dadurch ihre Unterschiedlichkeit leichter akzeptieren und besser darauf eingehen können. Bei Bedarf könnten einzelne Kinder noch zusätzlich eine Schulbegleitung bei sich haben, die aber nicht extern, sondern genauso fester Bestandteil der Schule ist. Es müsste auch nicht immer zwingend alles zusammen gemacht werden. Vor allem bei höherer Mathematik, Deutsch oder auch Latein können Untergruppen gebildet werden, die aber im selben Raum an ihren Aufgaben arbeiten. Während die Klasse einen Text von der Tafel abschreibt, kann ein Kind mit geistiger Behinderung die Aufgabe bekommen, bestimmte Wörter auf der Tafel zu finden. Natürlich würden Lehrkräfte beim gemeinsamen Unterricht auch auf Grenzen stoßen. Allerdings ist es nicht selten, dass gemeinsam mit der Klasse kreative Lösungen gefunden werden. Oft wird die Frage laut, was man denn mit besonders verhaltensauffälligen oder aggressiven Kindern in einer Regelschule machen sollte – wie man diesen und ihren Mitschülern gerecht werden könnte. Ich weiß nicht, welche Vorstellungen die Gesellschaft davon hat, was mit diesen Kindern in Sonderschulen passiert - ob sie glauben, dort wären auf einmal alle Probleme behoben. Fakt ist: Diese Schüler sind auf Förderschulen genauso verhaltensauffällig oder aggressiv. Sie sind nur aus dem Blickfeld der Gesellschaft verschwunden. Mit derselben fachlichen Kompetenz wie in einer Förderschule könnten sie also auch in einer Regelschule unterrichtet werden. Wir müssten uns nur für sie öffnen.
Wenn Menschen bereits in ihrer Kindheit lernen, dass Behinderungen zum Leben dazu gehören, dass sowohl sie als auch andere Kinder mit ihren Bedürfnissen gesehen werden und es weder Grund zur Abwertung noch zur Eifersucht gibt, dann ist schon sehr viel geschafft. Denn ist diese Hürde überwunden, breitet sich die daraus entstehende Offenheit und Gemeinschaftlichkeit wie eine frische Brise auf alle Bereiche der Gesellschaft aus.
Im Arbeitsleben wäre es dasselbe: Jeder Person einen Platz anzubieten, an dem sie mit ihren Fähigkeiten an etwas Großem mitarbeiten kann. Da man nicht leugnen darf, dass es auch Menschen gibt, die wirklich nur sehr wenig leisten können, wäre es auch nicht mehr aktuell, den Lebensunterhalt nur an die jeweilige Leistung zu knüpfen. Der Gedanke eines gesetzlichen Grundeinkommens wird hierbei sicherlich noch eine große Rolle spielen.
Sie sehen: Eine tatsächlich inklusive Gesellschaft wäre eine völlig neue Art zu leben – für alle. Jeder Schritt in diese Richtung sollte mit gut geschnürten Schuhen, einer Landkarte und einer guten Portion Zielstrebigkeit angegangen werden. Für eine Gesellschaft, die sich auch als Gemeinschaft versteht.

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