Auszug aus meinem Buch "Landschaften der Normalität - Behinderung jetzt":
Obwohl das Down-Syndrom oft als die häufigste angeborene Behinderung dargestellt wird, gibt es eine andere - nicht genetische Ursache, die die Anzahl an betroffenen Babys noch deutlich übertrifft. Nicht genetisch? Was mag das sein? Während sich der Embryo in der Schwangerschaft entwickelt, kann so einiges passieren. Physische Gewalteinwirkungen, eine sehr ungesunde Lebensweise oder: Drogenmissbrauch, allem voran Alkohol. Dieser ist gesellschaftlich akzeptiert und wird auch in der Schwangerschaft immer mal wieder konsumiert. In der westlichen Welt geben vier von fünf Frauen an, während der Schwangerschaft nicht gänzlich auf Alkohol zu verzichten. Lange wurde auch von medizinischer Seite verharmlost, dass eine kleine Menge ab und an nicht schädlich sei. Aber wo kann hier eine Grenze gezogen werden? Das Ergebnis des Konsums ist ein Kind mit Fetaler Alkoholspektrum-Störung – eine teilweise sehr schwere Behinderung. (Original „fetal alcohol spectrum disorder – FASD“) Mit einem betroffenen von 350 Kindern ist die FASD schätzungsweise die häufigste angeborene Behinderung überhaupt in Deutschland.
Ein Baby pro Stunde – und das obwohl sie völlig vermeidbar wäre. Sie kommt damit ca. doppelt so häufig vor, wie das Down-Syndrom aus dem letzten Kapitel. Alkohol ist ein Nervengift, das vom Blut der Mutter ungefiltert in den Körper des Embryos gelangt, wo es 10-fach langsamer abgebaut werden kann als im Körper der Mutter. Die gesamte Entwicklung des Menschen kann dadurch beeinflusst werden, besonders anfällig ist das Gehirn. Entgegen der verbreiteten Meinung kommt es zu diesen Schädigungen nicht nur, wenn die Mutter eine suchtkranke Person ist, die Alkohol im Übermaß konsumiert. Auch ein völlig normales bis geringes Maß zur falschen Zeit kann lebenslange Schäden verursachen. Natürlich begünstigt eine große Menge den Schaden enorm. Mütter, die alkoholkrank sind, bringen teilweise Babys mit zwei Promille Blutalkohol zur Welt. Obwohl es diese Störung sicherlich genauso lange wie den Alkoholkonsum gibt, taucht sie das erste Mal in den Geschichten von Wilhelm Busch auf. Die bekannten Unruhestifter Max und Moritz wurden durch ihr Verhalten und das beschriebene Aussehen als typische FAS-Kinder identifiziert. Dem Autor war dies wahrscheinlich nicht bewusst, jedoch geht man davon aus, dass die Geschichten durch reale Vorbilder entstanden, die sich damals sicherlich zahlreich an - boten. Erst in den 60er Jahren wurde der Zusammenhang von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und behinderten Kindern wirklich erfasst.
Merkmale der Störungen sind - je nach Ausmaß - große Schwierigkeiten beim Lernen, Konzentrieren und Einhalten von Strukturen. Betroffene berichten von einer starken Vergesslichkeit – in Bezug auf Wissen und erlernte Fähigkeiten. Sie haben Probleme, Entscheidungen zu treffen, andere Perspektiven einzunehmen und sich auf Neues einzustellen. Dadurch dass die Hormonausschüttung gestört ist, haben viele auch mit Schlafstörungen zu kämpfen. Selbstständig einen Alltag zu meistern ist also meist völlig unrealistisch, zudem viele auch geistig behindert sind. Körperliche Schäden können in sämtlichen Formen auftreten. Vermehrt sind Gesichtsfehlbildungen, Herzfehler und Bewegungsstörungen. Typisch ist auch ein sehr kleiner Kopf. Klassische Erkennungsmerkmale wie eine flache oder fehlende Mittelrinne zwischen Nase und Oberlippe, können sich im Laufe des Lebens verwachsen.
Kinder, die nicht das Vollbild des FASD aufweisen, haben meist einen langen Weg bis zur Diagnose. Sie bekommen die ersten richtigen Probleme in der Schule, wo sie als verhaltensauffällig und schlecht erzogen wahrgenommen werden. Die Eltern sind überfordert und ratlos. Ein starker Bewegungsdrang und die mangelnde Konzentration erschweren den Schulalltag, auch wenn eine durchschnittliche Intelligenz vorhanden ist. Bei einigen kommt ein impulsives bis aggressives Verhalten dazu, sodass es schwierig ist, Freundschaften zu knüpfen. Da oft keiner weiß, was eigentlich los ist, werden die betroffenen Kinder unter Druck gesetzt oder geschimpft: „Sie sollen sich doch mal zusammenreißen.“ Die Störung wird häufig nicht erkannt, da die Lern- und Verhaltensauffälligkeiten auch in andere Störungsbilder passen (z.B. ADHS) und diesen fälschlicherweise zugeordnet werden. Wenn die FASD dann irgendwann festgestellt wird, kann endlich richtig mit den Kindern umgegangen werden. Bei Erwachsenen ist die größte Herausforderung einen eigenen Alltag zu führen. Das Abrufen von erlernten Verhaltensmustern funktioniert nicht gut, sodass Chaos vorherrscht. Termine werden verpasst, Gegenstände verlegt und Vorsätze vergessen. Dadurch dass die Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung gestört ist, lassen sich Menschen mit FASD sehr leicht manipulieren und ausnutzen. Sie können schlecht unterscheiden, wer ihr Freund und Feind ist. Ist jemand nett oder cool, will man auch so sein und tut, was verlangt wird. Ein wirkliches Selbstbewusstsein gibt es meist nicht, stattdessen orientieren sie sich an anderen. Menschen mit einem vollständigen Fetalen Alkohol-Syndrom benötigen meistens ein Leben lang Unterstützung, um nicht im physischen und emotionalen Chaos zu enden. Dadurch dass diese häufig nicht gegeben ist - vielleicht auch, weil keine Diagnose bekannt ist - finden sich laut WHO 80% der Betroffenen irgendwann in Haft, Obdachlosigkeit, Drogenmilieu oder Prostitution wieder. Und das nicht, weil sie bereits aus diesen Lebensbereichen kommen. Das Fetale Alkoholsyndrom ist in allen Gesellschaftsschichten und Bereichen gleicher - maßen vertreten. In Anbetracht dessen ist es dringen zu empfehlen, bei der Schwangerschaft gänzlich auf Alkohol zu verzichten. Die Verantwortung liegt hier bei allen Müttern, Vätern, Familienmitgliedern, Freunden und Ärzten. Klären Sie darüber auf, welche Folgen auch ein nur geringer Konsum haben kann. Selbst das reicht manchmal nicht. Denn ist einer Mutter nicht bewusst, dass in ihr ein Kind heranwächst… warum sollte sie dann auf Alkohol verzichten?
Dazu Marie Bielenberg:
Ich bin Marie Bielenberg, 18 Jahre alt und bin gerade in den Husumer Werkstätten tätig. Ich arbeite dort, weil es als beeinträchtigte Per - son schwer ist, in einem normalen Umfeld zu arbeiten. Die Husumer Werkstätten sind ja extra für beeinträchtigte Menschen. Ich habe FAS – also Fetales Alkoholsyndrom. Das passiert, wenn die Frau in der Schwangerschaft Alkohol trinkt. Ich kenn meine Erzeugerin, habe aber keinen Kontakt mehr. Ich nenne sie so, weil >Mama< einfach nicht dazu passt und >Mutter< auch nicht. Sie hat eher getrunken, aber auch Drogen genommen. Ich bin wütend auf sie. Sie konnte zwar nichts dafür, weil sie auch psychisch krank ist (anders würde man sowas nicht machen), aber wir müssen den Fehler austragen, den sie gemacht hat. Das nervt.
Nachdem ich auf die Welt gekommen bin, musste ich erstmal ins Brutkästchen, weil ich drei Monate zu früh war. Als erstes musste ich dann an den Augen operiert werden. Danach musste ich ins Kinderheim – oder Babyheim, was weiß ich. Dann hat mich Mama abgeholt. Bei ihr bin ich gelandet, weil mein Erzeuger sie gefragt hat und dann kam das einfach so. Mama hat fünf leibliche Kinder und drei Pflegekinder. Die drei Pflegekinder sind ich und meine zwei kleinen Geschwister. Die beiden haben auch FASD. Wir sind aber trotzdem alle komplett verschieden. Meine Brüder sind zwar von der gleichen Mutter, aber nicht von den gleichen Vätern. Für mich ist es ganz normal auch mit Menschen ohne FASD zu wohnen. Meine beste Freundin ist auch nicht beeinträchtigt, sie ist ganz normal. Und dann muss sie halt einfach damit leben, dass ich so bin, wie ich bin. Mit meinen Brüdern ist es halt anstrengend… Meine Mama sagt immer, wir haben den typischen FASD-Humor. Also so richtig flache Witze. Eigentlich ist es schon komisch mit drei Kindern, die diese Beeinträchtigung haben zu leben, weil wir dann von komplett anderen Sachen reden. Wir sind dann auch ziemlich schnell verwirrt. Mama sagt etwas und dann kommt mein einer Bruder auf einmal mit Einhörnern, ich mit Basketball und der andere mit Sironhead oder so. Es ist immer ein bisschen Chaos. Wir sind halt auch ein bisschen naiver. Mir ist zum Glück noch nie etwas passiert, weil ich immer irgendwen am Arsch habe. Deshalb konnte ich auch auf eine normale Schule gehen – ich hatte eine Eins-zu-eins-Betreuung. Mama hat das so gemacht, dass ich die vorher richtig kennengelernt habe, sonst hätte das auch nicht geklappt. Mit fremden Menschen kann ich ja eigentlich überhaupt nicht. Die Schule war dann eine Gemeinschaftsschule mit Förderzentrum. Am liebsten wollte ich Erzieherin werden oder etwas mit Pferden machen. Aber das geht beides nicht. Pferde verurteilen nicht, sie sind immer da, wenn man sie braucht und sie nehmen einen so, wie man ist. Kinder sind einfach drollig. Ich mag sie zwar ziemlich gerne, aber ich glaube nicht, dass ich das selbst als Mutter könnte. Ich bin ziemlich schnell überfordert und bin gefühlt selbst noch ein Kind (auch durch den Alkohol). Ich möchte keine Kinder.
Ich bin ziemlich schnell vergesslich und für Sachen, die eigentlich komplett selbstverständlich sind, brauche ich einen ziemlich Arschtritt. (Nicht wortwörtlich.) Zum Beispiel: Die Spülmaschine aufräumen. Es gibt manche Tage, da bin ich so richtig motiviert und an manchen Tagen brauche ich gefühlt einen Arschtritt, um das zu machen. Das sind ganz normale Dinge, wo ich dann einfach überfordert bin. Wäsche machen, Bett machen, solche Dinge. Wenn ich überfordert bin, heule ich einfach. Ich kann das nicht beschreiben, aber es gibt einen Punkt, da weiß man: es ist Schicht im Schacht. Menschen, die sagen: ‚Faul ist doch jeder mal…‘ höre ich gar nicht zu.
Immer nett winken und ‚Arschloch‘ denken. Ich sag immer nur ‚jaja‘, aber innerlich denke ich mir: Du kennst mich nicht, du kannst nicht urteilen, ob ich jetzt faul bin oder nicht. Dieses Überfordert-Sein ist auch der Grund, warum ich in einer Werkstatt arbeite. Es ist allgemein schwierig mit FASD. Es gibt auch verschiedene Arten davon. Manche haben einen ziemlich hohen IQ, manche halt nicht. Mein kleiner Bruder – der ist jetzt 14 – kann zum Beispiel nicht mit Geld umgehen, wo ich mit Geld umgehen kann. Er kann aber auch Sachen, die ich nicht kann, zum Beispiel allein irgendwo hinfahren. Ich habe einen Orientierungssinn wie ein Käsetoastbrot. Das hat er nicht. Er traut sich auch viel mehr, ich bin ein richtiger Angsthase. Ich bin auch sehr gerne allein. Ich mag nicht so viele Menschen. Ich brauch am besten eine Person, weil ich mich auf die dann konzentrieren kann. Alles zusammen ist voll schwierig, weil man nicht weiß, worauf man sich konzentrieren soll. Wenn ich Zeit für mich habe, gehe ich einfach in mein Zimmer, male und höre Musik. Mit FAS kommt man auch mal in komische Situationen. Zum Beispiel in der Grundschule wurde ich gemobbt, nur weil ich anders bin. Ich laufe ja auch nicht so perfekt. Ich habe einen komischen Gang. Weil mir als Kind die Leiste gebrochen wurde, sind meine Beine nicht perfekt gerade. Man hat halt FAS, aber man sieht das nicht so an. Deshalb denken andere, dass man sich nur verstellt, weil man keinen Bock auf irgendetwas hat. Nur weil man nicht im Rollstuhl sitzt, heißt das nicht, dass man nicht behindert ist. Ich bin auch noch Epileptikerin. Seit 10 Jahren ist das aber eingestellt, weil ich regelmäßig Tabletten genommen habe. Mein letzter Anfall ist ziemlich lange her, es könnte aber jederzeit wieder auftauchen, wenn ich zu viel Stress habe oder mich zu sehr aufrege. Deshalb ist es auch immer besser, wenn ich mich aus Stresssituationen raushalte. Meine Mama sagt, ich bekomme dann gar keine Luft mehr, bin komplett weg und fange an zu zittern. Es war schon immer schwierig für mich, so zu leben, wie ich bin. Es ist einfach schwierig. Zum Glück gehen wir ziemlich offen damit um, dann kann man sich auch selbst akzeptieren. Aber es ist immer noch blöd. FAS bleibt ja für immer. Aber es ist besser, wenn man es kennt, wenn man weiß, wo die Grenzen sind. Nur weil man eine Beeinträchtigung hat, heißt das nicht, dass das Leben beschissen ist. Man muss einfach das Beste draus machen, weil es bringt ja auch nichts, sich selbst zu bemitleiden und zu sagen: ‚Ich bin behindert, ich kann nichts!‘
Ich gehe in die Öffentlichkeit, weil mir wichtig ist, dass manche Leute lernen, dass es FAS wirklich gibt, dass das nie wieder weggeht und dass Leute damit auch offener umgehen. Einfach was passiert, wenn man nur ein Gläschen Alkohol trinkt, raucht oder sonst irgendwas. Wenn ich von Leuten höre: „Ein Glas Sekt schadet ja nicht“ kriege ich schon so einen Hals. Ich muss natürlich respektvoll bleiben, aber ich fühle mich dann einfach verarscht. Man muss uns nur angucken und man weiß, was das für ein Fehler war. Nicht wir selbst, aber ja… Ich kriege da einen kleinen Hasskick.
Ich selbst trinke keinen Alkohol. Da wir FAS-Kinder selbst trockene Alkoholiker sind, ist bei uns die Suchtgefahr viel größer. Auch mit Rauchen und Drogennehmen. Ich habe das schonmal aus Versehen probiert - gerochen und geschmeckt – und ich finde das so eklig. So richtig.