Was bedeutet es, eine Behinderung zu haben? Was bedeuten Behinderungen in unserer Gesellschaft?
Dieses Buch bietet Ihnen die Möglichkeit, Antworten zu finden. Auf Fragen, die Sie sich normalerweise verkneifen, für die Ihnen die Worte fehlen oder die erst noch aufkommen. Sie erfahren, wer in unserer Gesellschaft als behindert gilt, welche Formen von Behinderung existieren, wie es dazu kommt und inwiefern ein Leben dadurch von anderen abweicht.
So unterschiedlich die Themen sind, so vielfältig sind auch die sechzehn betroffenen Personen, die die Kapitel durch persönliche Geschichten vervollständigen. Deren selbstgewählte Einblicke ermöglichen ein umfangreiches und authentisches Gesamtbild, das nicht nur interessant, sondern auch nötig ist, um das Ziel von Inklusion verstehen zu können.
Jedes Thema wird von einem Portrait und einer sinnbildlichen Fotografie ergänzt, die zum Innehalten und Nachdenken verleitet.
Informativ und einfühlsam. Neugierig und kritisch.
Eine Einladung hinzuschauen.

Einblick in den Themenbereich "Formen von Behinderung"

Angriff auf ein Weltbild
Körperbehinderung.
Unter einer körperlichen Behinderung können sich die meisten Menschen etwas vorstellen. Zum Beispiel eine Lähmung, ein fehlendes Bein oder eine schwere Krankheit. Ist der eigene Körper nicht voll funktionsfähig, bringt das natürlich Herausforderungen mit sich. Wenn ein Kind mit einer körperlichen Einschränkung auf die Welt kommt, wird es sich allerdings immer zunächst als normal empfinden – selbst, wenn es manches nicht kann. Genauso, wie es für unbehinderte Menschen normal ist, nicht fliegen oder unter Wasser atmen zu können. Die persönlichen (Un-)fähigkeiten werden zunächst akzeptiert. Das bedeutet: Die eigene Andersartigkeit oder Behinderung erlebt ein Mensch immer erst durch den Vergleich zu anderen und durch deren Rückmeldung – selbst, wenn er aktiv leidet. Das Leben mit einer körperlichen Behinderung ist häufig von Anfang an mit medizinischen Eingriffen und Therapien gepflastert. Von fremden Menschen regelmäßig oder auch schmerzhaft angefasst zu werden - eine Selbstverständlichkeit. Deshalb erleben Betroffene oft eine Objektivierung ihres Körpers. Alles muss hingenommen, vieles ertragen werden. Machtlosigkeit.
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Können dürfen
Denise Tovarysova
Hallo! Mein Name ist Denise, ich bin derzeit 24 Jahre alt und lebe in Stuttgart. Seit 2018 wohne ich in meiner eigenen Wohnung und im Sommer 2020 habe ich den schulischen Teil meiner Fachhochschul - reife abgeschlossen. Nicht einmal ich hätte gedacht, dass sich mein Leben einmal so posi - tiv entwickeln würde, denn ich habe eine große Hürde: meine Mus - keln. Seit meiner Geburt lebe ich mit der Erkrankung „Kongenitale Muskeldystrophie mit Merosindefekt“. Dieser unnötig komplizierte Satz beschreibt lediglich, dass es sich hierbei um eine Erbkrankheit handelt die meine Muskeln aufgrund eines fehlenden Proteins (dem Merosin) schwächt. Als Baby habe ich mich ungewöhnlich oft beim Trinken der Muttermilch verschluckt, woraufhin beschlossen wurde eine Muskelbiobsie durchzuführen. Hierfür wurde ein kleines Stück meines Muskels herausgeschnitten und untersucht.
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Gemeinsam anders
Sinnesbehinderung.
Sinnesbehinderungen sind ebenfalls körperlicher Natur, bringen aber grundlegend andere Herausforderungen mit sich. Beim Thema Behinderung geht es hauptsächlich um unsere Fern-Sinne – das Sehen und Hören. Diese sind maßgeblich, weil wir sie zur Orientierung brauchen. Jemand der nicht schmecken kann, wird dagegen eher keine großen Einschränkungen erleben. Beim Sehen und Hören ist das Ausmaß der Einschränkung entscheidend - schließlich haben einige Menschen eine Sehschwäche, erleben sich selbst aber nicht als behindert. Wenn ein Sinn gar nicht mehr oder nur in sehr geringem Ausmaß vorhanden ist, sieht das anders aus - denn einer tauben Person bringt auch ein Hörgerät nichts. Der Unterschied zwischen dem kompletten Verlust eines Sinnes und einem sehr geringen Ausmaß dessen ist groß. Das wird zum Beispiel bei den Paralympischen Spielen sichtbar, wo blinde Sportler:innen deutlich schwächer als die stark sehbehinderten Kolleg:innen abschneiden.
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No matter what they say
Julian Dreykorn
Ich bin Julian, 20 Jahre alt, und momentan im zweiten Lehrjahr mei - ner Ausbildung zum Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung. Diese habe ich nach meinem Abitur 2020 wegen meinem großen Interesse, mich in der Freizeit mit IT-Themen zu beschäftigen, be - gonnen. Ansonsten spiele ich Klarinette und Orgel, mit der ich auch häufiger bei uns in der Gemeinde die Gottesdienste begleite, und sin - ge in einem Chor. Zudem gehe ich einmal die Woche in einer Gruppe des DAV klettern und ab und zu gerne schwimmen, radfahren oder wandern. Im Garten haben wir ein Trampolin, auf dem ich sehr oft und gerne springe, weil mir das vor allem an Tagen, an denen ich viel sitze, einen guten Bewegungsausgleich gibt.
Seit meiner Geburt bin ich blind. Ich sehe auch nicht hell und dunkel was einige Andere können, oder etwa „immer nur schwarz“ wie das sich manche Sehende vorstellen, sondern wirklich gar nichts.
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Einblick in den Themenbereich "Ursachen von Behinderung"

Ich bin nicht behindert, ich bin Eva
von Beginn an.
Beginnen wir am anfänglichsten Anfang, der nur möglich ist: bei den Eltern. Diese können eine Behinderung, die sie selbst haben (zum Beispiel eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte) weitergeben. Allerdings ist es auch möglich, eine Behinderung zu vererben, die bei keinem Elternteil aufgetreten, aber im Erbgut enthalten ist (rezessive Erbanlage). Dies kann zum Beispiel bei geistigen Behinderungen der Fall sein. Natürlich ist nicht jede Behinderung vererbbar. Wer durch einen Unfall ein Bein verliert, wird deswegen nicht einbeinige Kinder auf die Welt bringen. Wäre dem so, müsste es auch Babys mit angeborenen Tattoos oder gefärbten Haaren geben. Die Informationen, die tatsächlich weitergegeben werden können, sind fähig, alle Bereiche des Nachwuchses zu beeinflussen - Körper, Geist und Psyche. Eine weitere Möglichkeit einer genetischen Behinderung ist eine spontane Mutation. Die Eltern haben damit zunächst nichts zu tun, Genetik verändert sich unvorhersehbar und kann dadurch zu Einschränkungen führen.
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Alle kochen am besten
Wolfgang Pressler
Ich bin Wolfgang, 67 geworden – am 04.09. hab ich Geburtstag – und bin im Mai seit 41 Jahren hier am Hof. Da läuft auch der Euro - vision Songcontest, den guck ich mir immer an – am Abend. Das Gastgeberland ist Turin. Eigentlich bin ich aus der DDR, in Leipzig aufgewachsen, bei meinen Eltern. Meine Eltern sind beide schon gestorben, meine Mutter ist hier in Velden begraben. Ich bin auf die Berufsschule gegangen, da habe ich Englisch gelernt und Italienisch. Und dann sächsisch. Gänsefleisch ma da Gofferraum uffmache! Auf dem Hof hier hab ich in der Landwirtschaft gearbeitet. Bei den Schweinen. Viele Jahre. Ich bin jetzt in Rente. Mache jeden Tag meinen Rundgang. Bin viel bei den Senioren. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und am Freitag. Freitag fahren wir dann nach Hersbruck. Kaffeetrinken und was einkaufen. Nächste Woche fahren wir nicht, weil da ist der Micha im Urlaub. Ich schreibe Briefe an Bayern 3 und das mache ich immer noch. Ich schreib: die sollen wieder schönes Wetter melden! Und mehr Sonne! Und dann machen die das, jaja. Der Regen jetzt ist auch nicht schlecht, das ist richtig.
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Max und Moritz
durch Schädigung.
Obwohl das Down-Syndrom oft als die häufigste angeborene Behinderung dargestellt wird, gibt es eine andere - nicht genetische Ursache, die die Anzahl an betroffenen Babys noch deutlich übertrifft. Nicht genetisch? Was mag das sein? Während sich der Embryo in der Schwangerschaft entwickelt, kann so einiges passieren. Physische Gewalteinwirkungen, eine sehr ungesunde Lebensweise oder: Drogenmissbrauch, allem voran Alkohol. Dieser ist gesellschaftlich akzeptiert und wird auch in der Schwangerschaft immer mal wieder konsumiert. In der westlichen Welt geben vier von fünf Frauen an, während der Schwangerschaft nicht gänzlich auf Alkohol zu verzichten. Lange wurde auch von medizinischer Seite verharmlost, dass eine kleine Menge ab und an nicht schädlich sei. Aber wo kann hier eine Grenze gezogen werden?
Das Ergebnis des Konsums ist ein Kind mit Fetaler Alkoholspektrum-Störung – eine teilweise sehr schwere Behinderung. (Original „fetal alcohol spectrum disorder – FASD“) Mit einem betroffenen von 350 Kindern ist die FASD schätzungsweise die häufigste angeborene Behinderung überhaupt in Deutschland. Ein Baby pro Stunde – und das obwohl sie völlig vermeidbar wäre. Sie kommt damit ca. doppelt so häufig vor, wie das Down-Syndrom aus dem letzten Kapitel.
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Nur ein Gläschen
Marie Bielenberg
Ich bin Marie Bielenberg, 18 Jahre alt und bin gerade in den Husumer Werkstätten tätig. Ich arbeite dort, weil es als beeinträchtigte Per - son schwer ist, in einem normalen Umfeld zu arbeiten. Die Husumer Werkstätten sind ja extra für beeinträchtigte Menschen. Ich habe FAS – also Fetales Alkoholsyndrom.
Das passiert, wenn die Frau in der Schwangerschaft Alkohol trinkt. Ich kenn meine Erzeugerin, habe aber keinen Kontakt mehr. Ich nenne sie so, weil >Mama< einfach nicht dazu passt und >Mutter< auch nicht. Sie hat eher getrunken, aber auch Drogen genommen. Ich bin wütend auf sie. Sie konnte zwar nichts dafür, weil sie auch psychisch krank ist (anders würde man sowas nicht machen), aber wir müssen den Fehler austragen, den sie gemacht hat. Das nervt.
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Einblick in den Themenbereich "Alltag"

Spielen im Wartezimmer
Kindheit.
Kinder mit Behinderung wuchsen früher hauptsächlich in Heimen auf, da ihre Eltern sich nicht ausreichend um sie kümmern konnten. Inzwischen ist das nicht mehr zwangsläufig der Fall, allerdings immer noch keine Seltenheit. Heute leben die meisten bei ihrer Familie und wissen zunächst vielleicht gar nicht, dass sie eine Behinderung haben – bis sie unter Menschen kommen. Sie stellen fest, dass sie manche Dinge nicht so gut können wie andere und fragen sich warum. Das Anders-sein wird vor allem von Erwachsenen wider - gespiegelt, die mitleidige Blicke zuwerfen oder die Eltern auf die Behinderung ansprechen. Kinder sind da oft unkomplizierter: Sie stellen vielleicht ein paar Fragen, aber danach wird gespielt. Je nach Behinderung haben betroffene Kinder dazu aber nur wenig Zeit. Ihr Alltag kann von Arztterminen, Therapien und Klinik - aufenthalten geprägt sein – die Stunden, die dabei in Wartezimmern verbracht werden nicht zu vergessen.
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Momente
Luca Lauria
Hallo,ich bin Luca - Antonio Ich bin 10 Jahre alt. Ich gehe auf die Gredel-Bergamann Schule in Nürnberg. Dort begleitet mich jeden Tag eine Schulbegleitung. Das ist eine Frau die mir hilft wenn ich etwas nicht alleine machen kann. Ich habe eine Gehbehinderung und sitze im Rollstuhl. Weil ich nicht laufen kann. Meine Hobbies sind zocken und basteln.
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1,38€ die Stunde
Arbeit.
Was sind Sie? Die meisten würden nun antworten: Bäckerin, Pädagoge, Informatikerin, Therapeut und so weiter. Manche würden vielleicht noch antworten: Mutter, Vater oder Freund:in. Fast niemand würde sagen: Linkshänderin, Sudoku-Löser, Pastaliebhaber oder Tandemfahrerin. Wer oder was wir sind, wird in unserer Gesellschaft hauptsächlich durch eines definiert: unsere Arbeit. Sie kann nicht nur eine Form der Selbstverwirklichung sein, sondern auch einen Großteil unseres sozialen Umfelds bilden. Bei Menschen ohne Behinderung hängt die berufliche Zukunft meist stark von ihrem Elternhaus, ihrer schulischen Laufbahn und der darauffolgenden Ausbildung ab. Personen mit Behinderungen haben allerdings trotz hoher Qualifikationen oft Probleme, einen angemessenen Job zu finden. Warum das so ist und welche beruflichen Möglichkeiten es gibt, möchte ich jetzt erklären.
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Das sind wir!
Chancen Gastro
Was machen wir? Seit mehr als 10 Jahren versorgt die CHANCEN gastro viele Menschen in Kantinen und einem Restaurant in Nürnberg mit ihrem vielfältigen Speiseangebot. Noch in diesem Jahr gehen wir auch mit einem eigenen öffentlichen Cafébetrieb unter dem Motto „Alle(s) inklusive“ an den Start. Wir sind ein Inklusionsunternehmen und eine Tochtergesellschaft der Stadtmission Nürnberg. Bei uns arbeiten in allen Bereichen Menschen mit und ohne Schwerbehinderung Seite an Seite. Wir haben uns auf die Berufsinklusion von Menschen mit psychischen Erkrankungen spezialisiert und legen großen Wert darauf, dass sich alle Mitarbeitenden auf Augenhöhe begegnen.
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Einblick in den Abschnitt "Gesellschaft"

1:51
Rückblick.
Bevor man sich mit der aktuellen Situation beschäftigt, macht es durchaus Sinn, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Menschen mit Behinderungen gab es nämlich schon immer. Bis zum Mittel - alter hing das Schicksal der Betroffenen sehr stark von ihrem Umfeld und vor allem ihrer Familie ab. So konnte es sein, dass man bei seinen Angehörigen lebte und von diesen gepflegt wurde, oder aber auf der Straße betteln musste. Manchmal wurden Menschen mit Behinderung auch von der Gemeinschaft ausgestoßen oder umgebracht. Im Mittelalter wurde durch das Christentum eine Armenpflege eingeführt, wodurch die ersten Einrichtungen für Menschen mit Behinderung entstanden. Gleichzeitig wurden Behinderungen auch als Strafe Gottes angesehen, sodass man sich von den Betroffenen lieber fernhielt. Behinderte Kinder wurden für sogenannte „Wechselbälger“ gehalten, die Satan durch die eigentlichen gesunden Kinder eingetauscht hatte, um den Menschen zu schaden.
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INKLUSION WANTED - dead or alive
Inklusion.
Sie haben jetzt einen intensiven Spaziergang mit vielen Eindrücken hinter sich. Sie wissen, was es bedeutet, eine Behinderung zu haben und wie es ist, behindert zu werden. Und nun? Das Wort Inklusion haben Sie sicher schon öfter gehört. Ob in Talk-Shows, im Freundeskreis oder in diesem Buch. Nach all dem, was Sie über den Missstand im gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung erfahren haben, haben Sie vielleicht den Impuls zu rufen: „Ja dann machen wir doch Inklusion! Worauf warten wir?!“ Ich gebe Ihnen Recht, das sollten wir. Aber wie? Beziehungsweise was? Wer genau hinschaut, wird nämlich bemerken, dass selbst die verantwortlichen Instanzen nicht genau wissen, was Inklusion sein soll. Es existiert eine Idee, aber keinerlei Kriterienkatalog, ab wann von einer inklusiven Gesellschaft die Rede sein könnte. Durch eine derartige Unwissenheitsbasis ist es auch nicht verwunderlich, dass das Thema in einen rechtlichen Irrgarten aus Bürokratie gejagt wurde. Schließlich fällt bei all dem Hin und Her gar nicht mehr auf, dass bereits der Architekt des Labyrinths nicht wusste, wo das Ziel sein soll. Aber beginnen wir doch beim Wort „Inklusion“. Abstrahiert bedeutet Inklusion, dass etwas Außenstehendes in etwas Inneres aufgenommen wird und dadurch zu etwas Neuem wird. Das Innere ist dabei die Gesellschaft, das Außenstehende sind Menschen mit Behinderung. Hier beginnt bereits die Verwirrung: Wer kann sich anmaßen zu definieren, wer oder was „die Gesellschaft“ ist? Welche Eigenschaften werden „der Gesellschaft“ zugeschrieben?
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